Nikolaus, 6. Dezember. Ich hatte eigentlich so gar keinen Bedarf, Abends vor die Tür zu gehen. Doch wie sagte ich schon? Ich war in meinem Freundeskreis sehr beliebt und nachdem eine meiner Freundinnen meinte, sie hätte auch eine Überraschung für mich, war ich dann doch auf dem Weg in die Kneipe.
Schon der Weg war eine Tortur. Mir war klar, da würde wieder Alkohol fliessen, also lief ich. Knappe ein Kilometer ohne Berg dazwischen, waren auch wirklich keine Herausforderung. Wäre es nicht so bitterlich kalt gewesen! Der Wind blies mir ins Gesicht und ich dachte schon an bleibende Frostbeulen. Wenn es wenigstens geschneit hätte! Schnee war das Einzige, was mir in dieser Jahreszeit zumindest ein wenig Spass machte. Wenn überall die Dächer weiss waren, die Felder und so. Ich fand das wunderschön. Aber nein, es war einfach nur scheisse kalt!
Freudig wurde ich in der Kneipe begrüsst. Küsschen von den Mädels, Handschlag von den Jungs. Wie immer. Meine Überraschung war auch total toll. Eine Packung mit Zimtsternen. Klar, ich war ja noch nicht fett genug. Allerdings hatte ich einen Trick, wie ich davon nicht zu viel essen konnte. Hätte ich die Packung mit nachhause genommen, wäre sie ruck zuck all gewesen. Deshalb öffnete ich sie direkt, stellte sie auf den Tisch und rief die Selbstbedienung aus. Zwei Sterne nahm ich mir dann doch, ich wollte nicht unhöflich sein.
Soweit war das auch ein ganz angenehmer Abend. Gut, die ganze Weihnachtsmusik hätte nun nicht sein müssen, aber davon abgesehen war es lustig. Wäre da nicht eine Sache gewesen, die mich echt wahnsinnig machte. Abigail war nicht da! Eigentlich ein Grund zur Freude, denn so musste ich nicht mitansehen, wie die ganzen Kerle um sie herum schlichen und Spass mit ihr hatten. Da sie aber nicht da war, malte sich mein Kopf aus, was sie wohl gerade tat. Vielleicht Sex mit dem einen, kuscheln mit dem anderen. Oder gleich mit beiden? Das war fast unerträglich und gipfelte darin, dass ich deutlich mehr Alkohol zu mir nahm, als ich eigentlich geplant hatte.
Hatte es was gebracht? Natürlich nicht! Schon kurz nach neun war ich zu wie eine Handbremse und dachte trotzdem die ganze Zeit nur an Abigail. Warum eigentlich? Ich hatte noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Wahrscheinlich war es auch weniger das, was sie trieb als jenes, was die Jungs trieben. Ich gönnte es denen einfach nicht, eine Frau wie Abigail zu haben! Nein, es war einfach nicht fair! Die hatten dauernd Frauen die nicht viel schlechter aussahen als sie. Die sassen dummerweise auch alle bei uns am Tisch. Grotesk sich vorzustellen, dass ein paar der Jungs, die auch am Tisch sassen, wirklich mit jeder von denen schon im Bett waren. Dabei war ich doch der heimliche Star, auf den niemand verzichten wollte! Nur eben im Bett war ich entbehrlich.
Konnte etwas meine Stimmung noch weiter in den Keller ziehen? Oh ja! Kurz nach neun öffnete sich die Tür und ich dachte schon, ich hätte Halluzinationen. Abigail war da. Das alleine wäre jetzt noch nicht so verwunderlich gewesen, doch was hatte die an? Schwarze, hohe Stiefel, die ihr bis zu den Knie gingen. Von da an nichts, bis kurz unter ihren Hintern. Ab da war dann ein rotes Kleid zu finden, mit weissen Saum und es schien aus Samt zu sein und auf dem Kopf noch eine rote Zipfelmütze. Ganz klar, sie spielte Nikolaus! Ein unglaublich attraktiver Nikolaus und in dem Outfit musste sie definitiv in die Knie gehen, wenn sie sich bückte.
So unwahrscheinlich es klingen mag, aber weder ihr Aussehen, noch die Verkleidung erregten meine Aufmerksamkeit. Ich wunderte mich hauptsächlich darüber, dass sie nicht erfror! Ich war mit dicken Sachen unterwegs gewesen und hatte kalt für zehn. Sie hatte nackte Oberschenkel, nackte Arme und so dick war der Fummel nun auch wieder nicht. Aber sie kam rein, hatte sofort ihren Spass und schien die Kälte gar nicht zu spüren. Wie ging das?
Der echte Nikolaus schien jedoch Mitleid mit mir zu haben, denn von da an besserte sich meine Stimmung. Zum einen wusste ich, dass nicht einer der Kerle Abigail gerade im Bett hatte und zum anderen, nicht ein Kerl kümmerte sich um sie. Ich konnte zwar beobachten, dass sie immer wieder angesprochen und anscheinend wegen des Outfits komplimentiert wurde, aber weiter hatte sie keinen Kontakt zu den Männern. Nur mit zwei Mädels, die öfters mit ihr zu tun hatten.
Stimmung also gerettet und dennoch war ich so voll, dass ich auf dem Weg zum Klo einmal den Türrahmen mitnahm. Selbstverständlich hatte Abigail das mitbekommen und ihr Lachen war kaum zu überhören. In meiner Eigenschaft als Pessimist war mir ganz klar, sie lachte mich aus. Sie hätte wahrscheinlich noch mehr gelacht, als ich statt dem Urinal die Wand und den Boden besudelte. Egal was ich auch versuchte, ich bekam meinen Schniedel nicht in den Griff. Der wollte einfach nicht dorthin feuern, wo ich hinzielte. Scheissding! Nie benutzt und trotzdem kaputt!
Neben dem Sex gab es da aber noch etwas, was ich als einziger in der Gruppe nie getan hatte. Rauchen! Ich hatte es mal versucht, da ich dachte dadurch cool zu sein, aber Rauchen war nichts für mich. Gut, es hätte mir beim abnehmen geholfen, denn jeder zweite Zug brach mich munter zum erbrechen, aber so auf die Dauer war das nicht so mein Ding. Rauch-Bulimie, oder wie? Nein, danke. So kam es dann dazu, dass ich mal wieder alleine am Tisch sass, da alle anderen ihrem sündhaft teuren Hobby frönten. Ich war es gewohnt, deshalb dachte ich mir nichts dabei.
Mit einem Mal war ich jedoch nicht mehr alleine. Mir setzte sich jemand gegenüber. Ganz in rot, mit einem zauberhaften Gesicht. Richtig, Abigail. Wie gesagt, ich hatte noch nie mit ihr gesprochen und wusste auch nicht, dass sie mich überhaupt kannte. Doch anscheinend tat sie es.
»Du bist Tony, ja?«
Ich nickte. Eigentlich wollte ich ihr antworten, aber mein Gehirn brachte die Kommunikation zu meinen Stimmbändern nicht zustande.
»Cool. Ich weiss ja, du hältst nicht viel von mir. Aber könnte ich dich um einen Gefallen bitten?«
Wie jetzt? Ich hielt nicht viel von ihr? Ich kannte sie doch gar nicht und konnte mir überhaupt kein Urteil bilden. Aber, sie bat mich um einen Gefallen. Typisch, dafür war ich gut genug. Da mein Sprachzentrum immer noch den Dienst verweigerte, nickte ich einfach nur.
»Cool. Ich müsste langsam nachhause, will aber nicht alleine durch die Nacht. Begleitest du mich?«
Einen Moment mal! War ich vielleicht auf dem Klo gestürzt, lag im Koma und träumte mir gerade die Welt schön? Ich schaute auf einen Bierdeckel und las den komischen Spruch. Also nein. Da ich lesen konnte, musste ich wach sein. Total verwirrt nickte ich wieder.
»Cool. Dann komm. Ich wohne nicht weit von hier!«
Wie in Trance stand ich auf und begleitete sie nach draussen. Irgendwie hatte ich es geschafft, dann doch noch meine Jacke mitzunehmen. Hypnotisiert war ich von ihr selbst, ihrer Bitte und der Tatsache, dass sie anscheinend »Cool« als Einleitung für ihre Sätze verwendete.
Von wegen nicht weit! Von mir bis zur Kneipe brauchte ich 20 Minuten ohne Auto. Zu ihr hatten wir nach 20 Minuten etwa die Hälfte der Strecke überwunden und wie ich sah, fror sie bitterlich.
»Willst du meine Jacke?«
»Cool, es kann sprechen! Aber nein, dann kriegst du kalt!«
»Blödsinn! Hier, nimm schon. Sonst bist du erfroren, bevor wir ankommen.«
Zitternd nahm sie dann doch meine Jacke, die ich ihr hingehalten hatte. Sie streifte sie sich über und lächelte.
»Cool. Danke!«
»Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich nicht viel von dir halte?«
»Hab ich mir so gedacht. Du hast noch nie mit mir geredet. Dabei sagen die anderen, dass du ein fröhlicher und herzensguter Mensch bist.«
Ich lachte einmal.
»Wie hätte ich denn mit dir reden sollen? Du bist doch dauernd in Beschlag!«
»Ja, ich weiss. Das nervt ganz schön. Gut, ich muss nie bezahlen, aber die sind echt anstrengend. Dauernd klingelt es bei mir und die nisten sich bei mir ein. Ich hab auch schon gehört, dass Gerüchte rumgehen. Angeblich hatte ich ja schon was mit den Meisten.«
»Ist das nicht so?«
»Seh ich so aus? Ich hab zwar gerne Sex und muss dafür auch nicht verliebt sein, aber nach ein paar Tagen schon das halbe Dorf zu nageln, nee du.«
Wieso ging es mir denn mit einem Mal so gut? Warum war ich so genervt, dass wir den Weg dann doch hinter uns gebracht hatten? Warum lächelte sie so wunderschön, als sie mir eine gute Nacht wünschte und sagte, dass wir uns ja bald wiedersehen? Aber vor allem, warum hatte ich meine Jacke nicht zurückgefordert? Alles Fragen, die mich den ganzen Rückweg begleiteten.